Diese Geschichte könnt ihr auch in unserem Podcast hören.
Als Matthias mir zum ersten Mal gesagt hat, nichtbinär zu sein (Frühling 2023), habe ich, Verena, erst mal gar nichts damit anfangen können. Das ist wahrscheinlich auch der Grund, warum ich diese Information zunächst nicht wahrgenommen habe. Ihr kennt vielleicht die Geschichte vom Schwarzen Schwan: Ein Ereignis ist so außerhalb jeder Vorstellungskraft, dass es zunächst nicht bemerkt oder einfach erstmal verdrängt wird.
Erst einige Monate später realisierte ich, dass sich etwas verändert hatte: Matthias schminkte sich. Sehr dezent, aber sichtbar. An und für sich nichts Ungewöhnliches für einen Mann, aber Matthias hat es nie zuvor getan. Zu Weihnachten 2023 schenkte ich Matthias einen Gutschein bei einer Make up – Artist. An diesem Datum merke ich mir, wann mir Matthias gesagt hat, nichtbinär zu sein. „Ich bin kein Mann“, sagte die Person, mit der ich seit über 30 Jahren verheiratet bin und zwei mit ihm (ja, jetzt darf das maskuline Pronomen sein!) gezeugte wunderbare Töchter habe.
Im Nachhinein erkannte ich die noch viel größere und wunderbare Veränderung: Matthias hatte keine Depressionen mehr. Jahrelang hatte Matthias darunter gelitten. Depression ist eine schwere psychische Krankheit, die die betroffene Person stark einschränken kann in ihrem Leben bis hin zur Arbeitsunfähigkeit und totalem sozialen Rückzug. Auch für Angehörige ist dies sehr belastend. Für mich war die jahrelange Realität. Und weil ich selbst einmal Depressionen hatte, weiß ich, wie schlimm sich das anfühlt, wie das lähmt. Depression kann und muss medizinisch und therapeutisch behandelt werden. Matthias hat das über Jahre getan, mit Therapeut*innen und einem tollen Psychiater. Was Matthias nicht wusste und die behandelnden Ärzt*innen und Therapeut*innen offensichtlich auch nicht: Sie haben die Symptome der Geschlechtsdysphorie behandelt!
Im Sommer 2022 sehe ich Matthias wochenlang nur an einem Ort: In unserer gemütlichen Gartenmuschel (wir werden die mal auf Instagram posten) liegt Matthias mit dem Laptop und liest und liest und liest. Wie Matthias mir nachher erzählt, kam die (jetzt probiere ich das Pronomen mal, mehr dazu hier) damals nach langen Recherchen darauf, nichtbinär zu sein.
Nach so vielen Jahren des Suchens, des Leidens hatte Matthias endlich das Gefühl, für sich gefunden zu haben, warum da dieses Unwohlsein mit dem eigenen Körper war: Matthias fühlte einen großen weiblichen Anteil in sich, den Matthias ausdrücklicher spüren und auch sichtbar machen wollte. Matthias will nicht auf das zugewiesene Geschlecht „Mann“ reduziert sein. Matthias hat eine Geschlechtsidentität, die nicht eindeutig nur auf Mann reduziert werden kann, das für Matthias bei der Geburt aufgrund der Geschlechtsmerkmale zugewiesene Geschlecht. Matthias erzählt die Entwicklung zur nichtbinären Person ausführlich im Podcast in der 1. Staffel.
An dieser Stelle eine ganz wichtige Unterscheidung: Es gibt einerseits die Geschlechtsidentität (auch: Gender Identität, früher: sexuelle Identität). Und es gibt die sexuelle Orientierung (zum Beispiel: Homosexuell, bisexuell, pansexuell, usw.). Das sind zwei ganz unterschiedliche Bereiche!!! Die Geschlechtsidentität einer Person hat nichts mit ihrer sexuellen Orientierung zu tun und sagt auch überhaupt nichts über diese aus. Das ist Basiswissen Sexuelle Bildung. Wer das früh genug weiß, erspart sich oder anderen Personen jahrelanges Leiden. Matthias ist ein trauriges (weil jahrelanges Leiden) und positives (weil Happy End mit Coming out) Beispiel für nicht vorhandene Sexuelle Bildung im Kindes – und Jugendalter. Hätte Matthias gewusst, dass die Geschlechtsidentität ein Spektrum ist und nicht nur Mann und Frau, Matthias hätte sich jahrelange Suche, Leiden und Depressionen erspart.
Zurück zur Geschlechtsidentität, um die es hier geht: Personen, die sich mit dem ihnen zugewiesenen Geschlecht nicht wohl fühlen oder nicht identifizieren, können das nur selbst wissen bzw. fühlen (wenn sie wissen, dass es so etwas wie die Geschlechtsidentität gibt – sexuelle Bildung, siehe oben). Und diese Personen fühlen das oft schon als kleine Kinder – wenn sie zum ersten Mal mit den Rollenklischees von Frau und Mann konfrontiert werden und merken, dass sie da nicht hineinpassen. Diesen Aspekt betone ich gerne, weil er zeigt, dass Nichtbinär* und Trans* bei Personen keine Laune, kein Trend ist. Geschlechtsdysphorie bedeutet für die betroffene Person oft jahrelanger Leidensdruck, bis sie erkennt (=inneres Coming out), was mit ihr los ist und sie ihr authentisches Selbst gefunden hat und lebt (=äußeres Coming out).
Geschlechtsdysphorie, das sich nicht wohlfühlen mit der ihnen bei Geburt zugewiesenen Geschlechtsidentität, kann von leichtem Unbehagen bis hin zu schweren psychischen Störungen reichen. Studien zeigen, dass diese Personen überdurchschnittlich oft unter Depressionen leiden, sich zurückziehen und sozial isoliert sind (das führt zusätzlich zu Minderheitenstress), auch, weil sie dadurch oft wirtschaftlich schlechter ausgestattet sind. Hier ein Artikel aus 2024, der dieses Problem und die aktuelle Studienlage mit Links zu den Studien darstellt.
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