Wie die Erkenntnis, dass es mehr als nur zwei Geschlechter gibt, Anfang des 20. Jahrhunderts zunächst öffentlich diskutiert wurde, mit der Flucht der Fachleute, die dies propagierten, in Vergessenheit geriet.
Schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde die Frage der Variationen von Geschlechtern in der Fachwelt und in der Gesellschaft relativ breit diskutiert. Heinz-Jürgen Voß, einer der führenden Expert*innen der Sexualwissenschaft, hat in dem von ihm verfassten Standardwerk „Einführung in die Sexualpädagogik und Sexuelle Bildung“ (2023) darauf hingewiesen, dass eine bemerkenswerte Arbeit in diesem Zusammenhang aus dem Jahr 1930 nicht beachtet wird und in Vergessenheit geriet: „Sexualerziehung – der Weg durch Natürlichkeit zur neuen Moral“ verfasst von Magnus Hirschfeld und Ewald Bohm. Nicht nur wurde hier die Vielfalt der Geschlechter als Annahme vorausgesetzt. Vor allem wurde in dem Ratgeber, den Voß als auch für heute noch beispielhaft bezeichnet, der Fokus auf die Entwicklung des Kindes bzw. des Heranwachsenden gelegt. Hirschfeld und Bohm rieten Eltern und Erziehenden, nicht zu früh das Geschlecht des Kindes festzulegen, da schon dessen Genitalien nicht eindeutig darüber Aufschluss geben würden, welches Geschlecht es sei, oder ob es „zwischengeschlechtlich“ sei. Vielmehr solle gewartet werden, bis die junge Person „geschlechtlich entscheidungsfähig“ sei und in dieser Zeit sei sie gesetzlich zu schützen. Welch moderner Ansatz, der jetzt, fast 100 Jahre später, immer noch nicht realisiert ist!
„Man darf wissenschaftlich (…) gar nicht von Mann und Weib sprechen, sondern nur von Menschen, die größtenteils männlich oder größtenteils weiblich sind.“ Magnus Hirschfeld 1905
Als Mediziner und Wissenschaftsjournalist waren Magnus Hirschfeld und Ewald Bohm am Institut für Sexualwissenschaft in Berlin engagiert, der weltweit ersten Einrichtung dieser Art und dem ersten queeren Zentrum überhaupt, Hirschfeld hatte es 1919 mitbegründet. 1933 wurde das Institut von den Nationalsozialisten geschlossen, geplündert, die Bücher verbrannt. Hirschfeld und Bohm mussten auch wegen ihrer jüdischen Herkunft ins Ausland emigrieren. Von den Nazis wurde Hirschfeld als Hassfigur hochstilisiert.
Für die Nazis galt bei den Geschlechtern ausschließlich das binäre und heteronormative Modell von Mann und Frau. Menschen, die diesem Model und der Rassenideologie der Nazis entsprachen, wurde Freude am Sex zugebilligt, letztlich für den Zweck, dass sie sich vermehrten (Voß S. 80-92, und Stichworte: Lebensborn, Mutterkreuz). Menschen im Spektrum ausserhalb dieser von den Nazis definierten Norm wurden als „nicht normal“ gebrandmarkt, verfolgt und ermordet.
Was passierte nach dem 2. Weltkrieg? Das Gleiche, was in vielen anderen Bereichen der Gesellschaft, der Verwaltung und in der Wirtschaft in Deutschland und in Österreich geschah: Die Akteure des Bereichs Sexualpädagogik und -Erziehung, die im 3. Reich führend waren, setzten ihre Arbeit fort, bzw. wurden ihre Werke unreflektiert weiter verbreitet und vermittelt. In diesem Fall: Das bipolare und heteronormative Modell von Frau und Mann, alles andere ist anormal. Die Arbeiten von jüdischen Wissenschaftern wurden wohl auch wegen dem weiterlebenden und fortdauernden Antisemitismus nicht mehr beachtet. Dieser Teil der Geschichte ist Voß zufolge immer noch nicht aufgearbeitet worden.
Quellen / Weiterlesen:
Heinz-Jürgen Voß, Einführung in die Sexualpädagogik und Sexuelle Bildung, Stuttgart 2023
https://mh-stiftung.de/projekte/biografien/magnus-hirschfeld/
https://www.demokratie-geschichte.de/koepfe/2091
Magnus Hirschfeld, Mischungen männlicher und weiblicher Geschlechtscharaktere (1905)
https://cms.konkret-magazin.de/hefte/heftarchiv/id-2019/heft-72019/articles/trans-warriors.html